Interview "Quantensprung in Sachen Digitalisierung"
Die anhaltende Corona-Krise zeigt, dass digitale Reha-Leistungen möglich sind, aber teilweise in ihrer Wirkung klare Grenzen haben. Vor allem Fachleistungen, die zur psychischen und sozialen Rehabilitation beitragen, sind nach der Erfahrung mehrerer Lockdowns nur in Präsenz effektiv umsetzbar und langfristig wirkungsvoll. Trotzdem wird es ein „weiter so wie vor Corona“ sicherlich nicht geben. Was hat die Politik für den Bereich Digitalisierung in der beruflichen Rehabilitation in Zukunft vor?
Schmachtenberg: Wir haben gesehen, dass die Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation während der Corona-Pandemie viel geleistet und einen wahren Quantensprung in Sachen Digitalisierung vollbracht haben. Damit die Einrichtungen untereinander von den Erfahrungen der anderen im digitalen Raum lernen können, lädt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales am 14. März zu einem großen Erfahrungsaustausch ein. Nach dem aktuellen Stand werden sich auch viele Berufsbildungswerke daran beteiligen. Über den Ausgleichsfonds fördert das Bundesministerium für Arbeit und Soziales überdies verschiedene Projekte, mit denen in Einrichtungen der beruflichen Reha digitale Anwendungen entwickelt und getestet werden. Mein Ziel ist dabei, dass die gewonnenen Erkenntnisse und entwickelten Anwendungen nach Projektende allen Einrichtungen zur Verfügung stehen. Im Projekt KI.ASSIST wurden z.B. verschiedene KI-gestützte Assistenzsysteme erprobt. Die Erprobung wurde auch in drei Berufsbildungswerken durchgeführt. Das Projektteam möchte KI-ASSIST gerne fortführen, damit alle Berufsbildungswerke solche Assistenzsysteme für die Arbeit mit den Rehabilitanden testen können. Dem stehe ich aufgeschlossen gegenüber. Weiteres Bespiel ist ein Projekt, das die Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke zum Jahresbeginn gestartet hat, in dessen Rahmen an drei BBW-Standorten sogenannte „Mixed-Reality-Technologien“ in der Berufsausbildung erprobt werden, ebenfalls gefördert mit Mitteln aus dem Ausgleichsfonds.
Qualität ist messbar, aber auch hier gibt es Grenzen. Die validen Qualitätskennzahlen belegen, dass BBW ihren Job gut machen, indem sie für Jugendliche mit Behinderungen die Brücke in den ersten Arbeitsmarkt bauen. BBW haben 2018 ein umfangreiches Benchlearning gestartet, um Prozesse anzustoßen und Strukturen weiter zu verbessern. Das Prinzip des Voneinander-Lernens könnte auch einrichtungstypübergreifend neue Impulse vorantreiben. Sehen Sie als BMAS eine Möglichkeit, dafür Formate zu schaffen?
Schmachtenberg: Genau deshalb planen wir ja eine Veranstaltung, die genau diesen Austausch ermöglichen wird. Wir haben bei unseren Besuchen vor Ort eindrucksvoll gesehen, wie die Einrichtungen der beruflichen Reha in kürzester Zeit auf digital umgestellt und eigene Lösungen gesucht haben. Deutlich wurden aber auch die Unterschiede zwischen einzelnen Einrichtungen. Beim virtuellen Erfahrungsaustausch sollen die Teilnehmenden einrichtungstypübergreifend von den Ideen anderer Einrichtungen profitieren. Es werden Vertreterinnen und Vertreter aus allen Bereichen der beruflichen Reha teilnehmen können. Mit dieser Veranstaltung bieten wir ein einmaliges Forum. Diese Anregung eines einrichtungstypübergreifenden Austauschformats sollten die Verbände der beruflichen Reha künftig weiterführen, denn die einzelnen Verbände sind sehr gut organisiert und ein guter Partner für alle Einrichtungen der beruflichen Reha.
Die hohe Personenzentrierung der Berufsbildungswerke im Sinne des SGB IX wird durch individualisierte Angebote verwirklicht. Durch die Vielfalt der Leistungen können Berufsbildungswerke jungen Menschen mit Behinderungen passgenaue Angebote entsprechend ihrer Interessen, Fähigkeiten und Integrationsbarrieren machen. Für diese Flexibilität braucht es die Grundlage preisverhandelter Maßnahmen. Steht das BMAS auch künftig dafür ein, dass Berufsbildungswerke ihre Leistungen preisverhandelt anbieten können?
Schmachtenberg: Wie Sie wissen, erbringt die Bundesagentur für Arbeit (BA) für Menschen mit Behinderungen allgemeine und besondere Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und unterteilt diese in drei Förderkategorien. Die Leistungen der Berufsbildungswerke fallen in die Förderkategorie III für Rehabilitanden mit dem höchsten Förderbedarf. Für diese Leistungen hat die BA ein transparentes Zulassungssystem auf Basis von Qualitäts- und Leistungskriterien ausgestaltet. Liegt die Zulassung vor, können die Maßnahmen preisverhandelt angeboten werden, auch von den Berufsbildungswerken. Am aktuellen Verfahren zur Beschaffung von Reha-Maßnahmen durch die BA sind derzeit keine Änderungen geplant.
Wir vermissen im Koalitionsvertrag einen konkreten Digitalpakt für berufliche Bildung. Wird sich die neue Bundesregierung trotzdem dafür stark machen, dass junge Menschen mit Behinderung in den Berufsbildungswerken von der Digitalisierung profitieren und wie wird dieses Ziel erreicht?
Schmachtenberg: Ich halte nichts davon, für jedes Teilsegment unserer Gesellschaft einen speziellen, die eigenen Grenzen zementierenden Digitalpakt zu initiieren. Bereits jetzt profitieren die BBW, die auch über eine Berufsschule verfügen, vom bestehenden „Digitalpakt Schule“. Geeignete Formate und Unterstützungssysteme für den Bereich Ausbildung und Berufsbildung sind grundsätzlich noch ausbaufähig, denkbar sind beispielsweise barrierefreie Lernplattformen und Apps. Hier verfügen die Einrichtungen vor Ort selbst über das beste Know-how. Entsprechende Modernisierungsschritte können sie im Rahmen der preisverhandelten Maßnahmen und der Modellprojektförderungen realisieren.
Wir begrüßen, dass das Budget für Ausbildung weiter gestärkt und ausgebaut werden soll. Ein Budget für Ausbildung ist nur wirksam, wenn junge Menschen mit Behinderung davon profitieren, die eine Berufsorientierung oder Ausbildung in einem BBW machen. Ist das geplant?
Schmachtenberg: Das Budget für Ausbildung ist eine Alternative zum Berufsbildungsbereich der Werkstätten für behinderte Menschen. Es kommt deshalb nicht für Jugendliche in Betracht, die ihre gesamte Ausbildung im Berufsbildungswerk machen. Möglich ist aber, dass der schulische Teil der Ausbildung im Rahmen eines Budgets für Ausbildung im Berufsbildungswerk erfolgt, wenn wegen Art oder Schwere der Behinderung die Berufsschule am Ort des Ausbildungsplatzes nicht besucht werden kann.
Die Regelungen zum Budget für Ausbildung gelten seit dem 1. Januar 2020. Außerdem können seit dem 1. Januar 2022 auch die Menschen davon profitieren, die sich schon im Arbeitsbereich der Werkstatt befinden. Das Budget für Ausbildung muss jetzt Eingang in die Praxis der Leistungsträger finden, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird die weitere Entwicklung beobachten.