Bundesteilhabegesetz (BTHG)
Das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen – Bundesteilhabegesetz (BTHG) – ist ein stufenweise in Kraft tretendes Artikelgesetz bzw. Gesetzgebungsverfahren, durch das Regelungen in verschiedenen bestehenden Sozialgesetzbüchern und weiteren Gesetzen geändert werden. Der Schwerpunkt hierbei liegt bei der Neufassung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) und bei Änderungen des Eingliederungshilferechts. Das BTHG wurde am 23. Dezember 2016 verkündet und am 29. Dezember 2016 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Es tritt in vier Reformstufen in Kraft, die im Zeitraum von 2017 bis 2023 umgesetzt werden (Details siehe unten).
Politische Ziele der Reformen
Schwerpunkt des BTHG ist unter stärkerer Berücksichtigung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) die Reform des SGB IX sowie die Modernisierung des Eingliederungshilferechts (SGB XII). Mit dem BTHG ist ein "Systemwechsel" beabsichtigt, in dessen Verlauf die Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe herausgelöst und als ein eigenes entsprechendes Leistungsrecht im SGB IX etabliert wird. Dieses im künftig neuen Teil 2 des SGB IX geregelte Eingliederungshilferecht soll sich insbesondere durch eine personenzentrierte Ausrichtung und eine ganzheitliche Bedarfsermittlung auszeichnen. Die Fachleistungen der Eingliederungshilfe sollen künftig klar von den Leistungen zum Lebensunterhalt getrennt und finanziert werden.
Grundsätzliche Änderungen – Eckpunkte
Das Bundesteilhabegesetz (BTHG)
- führt einen erweiterten Behinderungsbegriff in das Sozialgesetzbuch ein, der sich an der UN-BRK und der Internationalen Klassifiktion der Funktionsfähigkeit und Behinderung und Gesundheit (ICF) orientiert;
- verschiebt die Leistungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung von der Sozialhilfe in das Rehabilitations- und Teilhaberecht (Trennung der Teilhabeleistungen der bisherigen Eingliederungshilfe von den existenzsichernden Leistungen);
- gestaltet die Leistungen der Eingliederungshilfe auch inhaltlich neu;
- verändert die Regelungen zur Kostenheranziehung von Menschen mit Behinderung und ihren Angehörigen;
- reformiert das Verfahren zur Beantragung und Bedarfsermittlung der Leistungen zur Teilhabe;
- reformiert das Vertragsrecht zwischen den Einrichtungen bzw. Diensten und den Trägern der Eingliederungshilfe;
- verändert die Schnittstelle zur Krankenversicherung und zur Pflegeversicherung (gleichzeitig werden die Pflegestärkungsgesetze reformiert);
- erneuert im Rahmen der Eingliederungshilfe das Recht auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und
- reformiert den Allgemeinen Teil des SGB IX (SGB IX Teil 1).
Reformstufe 1 – Eckpunkte (ab 01.01.2017)
- Ab 01.01.2017: Vorgezogene Änderungen im Schwerbehindertenrecht (siehe unten)
- Erste Stufe bei Verbesserungen in der Einkommens- und Vermögensberücksichtigung im SGB XII
- Ab 01.04.2017: Erhöhung des Schonvermögens für Bezieher von SGB-XII-Leistungen von bis dato 2.600 Euro auf 5.000 Euro
Vorgezogene Änderungen im Rahmen der Reformstufe 1
Änderungen im Schwerbehindertenrecht, insbesondere beim Recht der Schwerbehindertenvertretungen:
- Unwirksamkeitsklausel (§ 95 Absatz 2 Satz 3 SGB IX a. F.; § 178 Absatz 2 Satz 3 SGB IX n. F.): Die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen, die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber ohne eine Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung (SBV) aussprechen, ist unwirksam.
- Senkung des Schwellenwerts für die Freistellung (§ 96 Absatz 4 SGB IX a. F.; § 179 Absatz 4 SGB IX n. F.): Der Schwellenwert für die Freistellung der Vertrauensperson ist von bis dato 200 schwerbehinderten Menschen im Betrieb auf 100 abgesenkt worden.
- Senkung des Schwellenwerts für die Heranziehung von Stellvertreterinnen und Stellvertretern (§ 95 Absatz 1 Satz 4 SGB IX a. F.; § 178 Absatz 1 Satz 4 SGB IX n. F.): Die Schwellenwerte für die Heranziehung der Stellvertreterinnen und Stellvertreter sind nun nach oben gestaffelt, so dass die Vertrauenspersonen in größeren Betrieben nun mehr Stellvertreterinnen und Stellvertreter heranziehen können (bis dato: maximal zwei).
- Schulung der Stellvertreterinnen und Stellvertreter (§ 96 Absatz 4 SGB IX a. F.; § 179 Absatz 4 SGB IX n. F.): Auch Stellvertreter und Stellvertreterinnen der Vertrauenspersonen haben Anspruch auf Schulungen.
- Bürokraft (§ 96 Absatz 8 Satz 3 SGB IX a. F.; § 179 Absatz 8 Satz 3 SGB IX n. F.): Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber übernehmen nun auch die Kosten einer Bürokraft für die SBV in erforderlichem Umfang.
- Übergangsmandat der SBV (§ 94 Absatz 8 SGB IX a. F.; § 177 Absatz 8 SGB IX n. F.): Es ist ein Übergangsmandat bei Betriebsübergang für Schwerbehindertenvertretungen in der gewerblichen Wirtschaft geschaffen worden, wie es für den Betriebsrat in § 21a Betriebsverfassungsgesetz geregelt ist.
- Wahlverfahren Konzern-SBV (§ 97 Absatz 7 SGB IX a. F.; § 180 Absatz 7 SGB IX n. F.): Bei der Wahl der Konzern-, Gesamt-, Bezirks- und Hauptschwerbehindertenvertretungen kann nun ein vereinfachtes Wahlverfahren durchgeführt werden, selbst wenn der Betrieb oder die Dienststelle aus räumlich weit auseinanderliegenden Teilen besteht. Ab 50 Wahlberechtigten muss jedoch weiterhin im förmlichen Wahlverfahren gewählt werden.
- Inklusion: Der Inklusionsgedanke ist im Betriebsverfassungsgesetz stärker verankert worden (ausdrückliche Aufnahme der Inklusion behinderter Menschen in den Katalog möglicher Themen für eine Betriebsvereinbarung und bei der Personalplanung).
- Inklusionsvereinbarung (§ 83 Absatz 1 Satz 5 SGB IX a. F.; § 166 Absatz 1 Satz 5 SGB IX n. F.): Der Begriff "Integrationsvereinbarung" im SGB IX ist durch "Inklusionsvereinbarung" ersetzt worden. Das Integrationsamt soll nun im Falle von Meinungsverschiedenheiten zwischen Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern sowie der SBV zwischen den beiden Parteien moderieren und vermitteln.
- Leistungen zur beruflichen Orientierung (§ 102 Absatz 3 SGB IX a. F.; § 185 Absatz 3 SGB IX n. F.): Das Integrationsamt kann im Rahmen seiner Zuständigkeit für die Begleitende Hilfe im Arbeitsleben aus den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nachrangig nun auch Leistungen zur beruflichen Orientierung erbringen.
Änderungen bei den Mitwirkungsmöglichkeiten in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM):
-
Umfang des Werkstattrats: Der Werkstattrat bestand bis dato aus höchstens sieben Mitgliedern. Nun besteht der Werkstattrat in größeren Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM)
- bei bis zu 700 Wahlberechtigten aus bis zu sieben Mitgliedern,
- bei 701 bis 1000 Wahlberechtigten aus neun Mitgliedern,
- bei 1001 bis 1500 Wahlberechtigten aus elf Mitgliedern und
- bei mehr als 1500 Beschäftigten aus 13 Mitgliedern. - Stärkung der Mitwirkung und Mitbestimmung: Es wird nun zwischen einem Mitwirkungs- und einem Mitbestimmungsrecht in besonders wichtigen Angelegenheiten unterschieden. Die Mitbestimmung betrifft beispielsweise Regelungen bzgl. Beginn und Ende der Arbeitszeit, Pausenzeiten, Arbeitsentgelt, Aufstellung und Änderung der Werkstattordnung.
- Freistellung für die Schulung von Werkstatträtinnen und -räten: Der Anspruch der Werkstatträtinnen und -räte auf Freistellung zur Teilnahme an Schulungs- und Bildungsveranstaltungen ist von zehn auf 15 Tage pro Amtszeit erhöht worden. Für neue Werkstatträtinnen und -räte bleibt es wie bis dato bei 20 Tagen. Neben der oder dem Vorsitzenden des Werkstattrats hat in Werkstätten mit mehr als 700 Wahlberechtigten nun auch die Stellvertretung einen Anspruch auf Freistellung.
- Vertrauensperson des Werkstattrats: Die dem Werkstattrat zur Seite zu stellende Vertrauensperson muss nicht mehr aus dem Fachpersonal der Werkstatt stammen. Sie kann auch von außerhalb kommen.
- Frauenbeauftragte: Das Amt der Frauenbeauftragten ist eingeführt worden.
- Arbeitsentgelt: Der Freibetrag bei der Anrechnung des Arbeitsentgeltes auf die ergänzenden Leistungen der Grundsicherung wird erhöht, das Arbeitsentgelt aus der Werkstattbeschäftigung wird nun in einem geringeren Umfang auf die Leistungen der Grundsicherung angerechnet als bisher. Die Werkstattbeschäftigten haben dadurch mehr Einkommen zur Verfügung.
- Arbeitsförderungsgeld: Das Arbeitsförderungsgeld für Werkstattbeschäftigte wird von bisher 26 Euro auf nun 52 Euro im Monat verdoppelt. Das erhöht das Einkommen der Werkstattbeschäftigten.
Änderungen beim Schwerbehindertenausweis:
- Merkzeichen "aG" (§ 229 SGB IX n. F.): Für das Merkzeichen "aG" wurde klargestellt, dass eine außergewöhnliche Gehbehinderung (Merkzeichen "aG") nicht nur aufgrund von orthopädischen, sondern beispielsweise auch wegen schwerer Beeinträchtigung innerer Organe vorliegen kann. Schwerbehinderte Menschen, deren mobilitätsbezogene Teilhabeeinschränkung nicht im orthopädischen Bereich liegt, erhalten dadurch leichter den ihnen zustehenden Nachteilsausgleich.
- Merkzeichen "TBl" (§ 3 SchwbAwVO): Das Merkzeichen "TBl" für taubblinde Menschen ist neu eingeführt worden. Das Merkzeichen wird im Schwerbehindertenausweis, eingetragen, wenn bei einem schwerbehinderten Menschen wegen einer Störung der Hörfunktion ein Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 70 und wegen einer Störung des Sehvermögens ein GdB von 100 anerkannt ist.
- Beteiligung: In dem Ärztlichen Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizin, der das BMAS bei der Fortentwicklung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) berät, werden nun zwei sachkundige Personen mitberatend tätig sein, die von den Betroffenenverbänden benannt worden sind. Damit soll die Sichtweise der Betroffenen auf die Teilhabebeeinträchtigungen besser berücksichtigt werden.
Erste Stufe der Änderungen bei Einkommen und Vermögen in der Eingliederungshilfe:
- Freibetrag für Erwerbseinkommen: Für Bezieherinnen und Bezieher von Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Pflege ist ein neuer Freibetrag für Erwerbseinkommen eingeführt worden. Dieser beträgt 40 Prozent des unbereinigten Bruttoeinkommens gedeckelt auf 65 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 (bis dato rund 260 Euro monatlich).
- Vermögensfreibetrag: Der Vermögensfreibetrag für Bezieherinnen und Bezieher von Eingliederungshilfe ist von 2.600 Euro auf zunächst 27.600 Euro erhöht worden. In der Hilfe zur Pflege greift der erhöhte Vermögensfreibetrag nur für Vermögen aus Erwerbstätigkeit.
Reformstufe 2 – Eckpunkte (ab 01.01.2018)
- Einführung des SGB IX Teil 1 (Allgemeiner Teil/Verfahrensrecht) und SGB IX Teil 3 (Schwerbehindertenrecht)
- Reform des Vertragsrechts im neuen Eingliederungshilferecht in den §§ 124 bis 134 SGB IX Teil 2
- Im Rahmen der Eingliederungshilfe treten vorgezogene Änderungen im Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und im Gesamtplanverfahren im SGB XII in Kraft (Stichworte: Andere Leistungsanbieter und Budget für Arbeit).
Neufassung des SGB IX im Rahmen der Reformstufe 2
Zum 1. Januar 2018 ist die zweite Reformstufe des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) in Kraft getreten. Hiermit hat das bislang geltende SGB IX seine Gültigkeit verloren, das SGB IX wurde insgesamt neu gefasst (SGB IX-neu, vgl. Artikel 1 BTHG). Das Schwerbehindertenrecht hat sich von Teil 2 zu Teil 3 des SGB IX-neu verschoben. Die bereits im Rahmen der ersten Reformstufe geänderten Vorschriften wurden nun inhaltlich nicht mehr verändert, es haben aber sämtliche Vorschriften eine neue Nummerierung erhalten.
Aufbau des SGB IX-neu:
- SGB IX Teil 1 (§§ 1-89) fasst das für alle Rehabilitationsträger geltende Rehabilitations- und Teilhaberecht zusammen unter dem Titel: "Regelungen für behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen" (Allgemeiner Teil/Verfahrensrecht).
-
SGB IX Teil 2 (§§ 90-150) regelt das aus dem SGB XII herausgelöste und reformierte Eingliederungshilferecht unter dem Titel: "Besondere Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung von Menschen mit Behinderungen" (Eingliederungshilferecht). Mit dem reformierten Eingliederungshilferecht wird das SGB IX zu einem Leistungsgesetz.
Das neue Eingliederungshilferecht wird (überwiegend) erst am 01.01.2020 in Kraft treten. Gleichzeitig wird die bis dahin gültige Eingliederungshilfe-Verordnung außer Kraft treten. - SGB IX Teil 3 (§§ 151-241) umfasst das weiterentwickelte Schwerbehindertenrecht unter dem Titel: "Besondere Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen" (Schwerbehindertenrecht).
Wichtige Änderungen im SGB IX im Rahmen der Reformstufe 2 (ab 01.01.2018)
- Verfahrensrecht (§§ 1-89 SGB IX): Änderungen bei den Verfahrensabläufen der Leistungserbringung im Hinblick auf die Feststellung des Teilhabebedarfs, die Koordinierung der Leistungen und die Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger. Stichworte: Bedarfserkennung, Bedarfsermittlung, Leistender Rehabilitationsträger, Teilhabeplanverfahren.
- Neue Beratungsstrukturen: Die neuen Ansprechstellen der Rehabilitationsträger und die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) treten an die Stelle der Gemeinsamen Servicestellen der Rehabilitationsträger.
- Leistungen zur Teilhabe an Bildung (§ 75 SGB IX): Eine neue Leistungsgruppe "Leistungen zur Teilhabe an Bildung" ist eingeführt worden. Die Leistungsgruppe umfasst u. a. auch Hilfen zur schulischen Berufsausbildung, Hochschulbildung und beruflichen Weiterbildung.
- Inklusionsbetriebe (§ 132 Absatz 4 SGB IX a. F.; § 215 Absatz 4 SGB IX n. F.): Inklusionsbetriebe (vorher: Integrationsprojekte) beschäftigen mindestens 30 Prozent schwerbehinderte Menschen (vorher: 25 Prozent). Sie wenden sich nun an einen um psychisch erkrankte Menschen erweiterten Personenkreis.
- Inklusionsbeauftragte (§ 98 SGB IX a. F.; § 181 SGB IX n. F.): "Beauftragte des Arbeitgebers" heißen nun "Inklusionsbeauftragte des Arbeitgebers".
-
Budget für Arbeit (§ 61 SGB IX): Das Budget für Arbeit ist als Regelleistung zur Teilhabe am Arbeitsleben eingeführt worden.
- Andere Leistungsanbieter (§ 60 SGB IX): Durch das Budget für Arbeit und die Zulassung Anderer Leistungsanbieter werden die Beschäftigungsangebote anerkannter Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) ergänzt.
Reformstufe 3 – Eckpunkte (ab 01.01.2020)
- Einführung SGB IX Teil 2 (neues Eingliederungshilferecht)
- Zweite Stufe bei Verbesserungen in der Einkommens- und Vermögensberücksichtigung
Reformstufe 4 – Eckpunkte (ab 01.01.2023)
- Änderung des leistungsberechtigten Personenkreises in der Eingliederungshilfe (Artikel 25a BTHG, § 99 SGB IX); bis dahin Erprobung in Modellvorhaben